Verlorene Welten

Gelesenes | 23. November 2018

Erzählt wird die Geschichte Nordamerikas zwischen 1600 und 1910 aus der Perspektive der Native Americans. Der Autor beschreibt eingehend die politischen Motive aller Seiten in einem erbarmungslos geführten Kampf um den Kontinent. (Aram Mattioli, Klett-Cotta)

Auf über 350 Seiten, in sieben Kapiteln, einem Epilog, einem sehr umfangreichen und inspirierenden Literaturverzeichnis, mehreren Karten und einer Zeittafel erzählt Mattioli, der als Professor für neueste Geschichte an der Uni Luzern lehrt, die traurige Geschichte von der Begegnung der Einheimischen des Nordamerikanischen Kontinents mit den europäischen Einwanderern und ihren Nachfahren. Einer Begegnung, die letztendlich mit der fast vollständigen Vernichtung der Kulturen der nordamerikanischen Urvölker endete.

Mattioli beschreibt die Realität dieser verlorenen Welten eher am Rande. Er beschreibt vor allem, wie diese Welten verloren gingen. Dabei orientieren sich die Buchkapitel am bekannten Verlauf der Geschichte. Vom Schicksal der Waldvölker des Nordostens unter den (gemäßigten) Franzosen und (unterdrückenden) Briten über die leidvolle Umsiedlung der Cherokee, Creek, Chickasaw, Choctaw und Seminoles im Südosten unter der neuen (zutiefst rassistischen) US-Siedlerrepublik bis hin zur Ausrottung der Westküstenvölker als quasi Kollateralschaden des ersten Goldrausches. Der Vernichtung der Plains-Nationen im Zuge des zweiten Goldrausches und der Fortschritte in der Agrartechnik, die die bis dahin für die US-Wirtschaft uninteressanten Plains zu lukrativen Anbauflächen machten. Die Massaker an den Nationen der Plains im Mittelwesten durch US-Bürger wie z. B. am Sand-Creek und am Wounded Knee und auch der letztendlich gescheiterte Ethnozid in den »Schulen für indianische Kinder« gegen Ende des 19. Jahrhunderts bleiben ebenfalls nicht unerwähnt.

Die Bevölkerungszahl der Native Americans ging zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert von ca. 25.000.000 Menschen auf nur 30.000 Menschen zurück. Mattioli führt für diesen rapiden Niedergang drei mögliche und in der Geschichtsschreibung gängige Szenarien an. Zum Ersten, die Vernichtung dieser Völker als unabwendbares Schicksal, das durch die Unfähigkeit der Ureinwohner zur Anpassung, den von den Europäern ungewollt verbreiteten tödlichen Krankheiten und durch die Bevölkerungsexplosion der Europäer besiegelt wurde. Zum Zweiten, die planmäßige Vernichtung aller dieser Völker durch die Armeen der Europäer und US-Amerikaner auch unter bewusster Ausnutzung der Anfälligkeit der Ureinwohner für eingeschleppte Krankheiten wie Masern und Pocken. So handelt ein auch heute noch unter den Nachfahren der American Natives verbreitetes Narrativ von einer gezielten Vergiftung durch die Verteilung von mit Pocken verseuchten Decken unter dem Deckmantel der Barmherzigkeit. Mattioli widerlegt diese Geschichte als einen von vielen "Unfällen" dessen Auswirkungen aus Zynismus ignoriert und letztlich willkommen geheißen wurden.

Mattioli entscheidet sich für ein drittes Szenario. Er unterstellt den US-Regierungen keinen geplanten Genozid, macht sie aber für die bewusste Tatenlosigkeit gegenüber den vielen Verbrechen an den Ureinwohnern verantwortlich und beschreibt den Totalverlust dieser Völker und Kulturen letztlich als Summe dieser vielen Faktoren.

Letztendlich ist es ein trauriges Buch. Die Nationen der Ureinwohner wurden verdrängt und vernichtet, so wie ein Wald von einer Autobahn, einer Industrieanlage oder einer neuen Weidefläche für Rindviecher verdrängt und vernichtet wird. Man kann man sich damit trösten, dass damals andere moralische Maßstäbe galten ...

»Das großartige Buch erzählt die Geschichte Amerikas aus der Perspektive der Indianer« (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)