Plötzlich tief im Wald

Gelesenes | 19. Juli 2014

Das kleine poetisches Buch gehört einem Genre an, das man eigentlich als ausgestorben betrachtet: es ist ein Märchen. Es beginnt zwar nicht mit »Es war einmal ... «, mutet dennoch durch seinen bilderreichen, eigenen Stil märchenhaft an. (Amos Oz, Suhrkamp)

In einer regnerischen Winternacht vor vielen Jahren verließen alle Tiere das kleine Dorf am Ende der Welt und kehrten nie wieder zurück. Diese Tatsache hängt wie ein Damoklesschwert über der Gemeinschaft des Dorfes, und daher haben sie die stille Übereinkunft geschlossen, zu schweigen und zu vergessen, all das hinter sich zu lassen, was damals geschah und was die Ursachen dafür waren. Auf diese Weise versucht die Gemeinschaft, die tiefe Traurigkeit über das Geschehene und die daraus resultierende leb- und freudlose Existenz der Menschen im Dorf zu verdrängen, die alle von ihnen gelegentlich heimsucht, sodass sich ein Tabu und eine enorme Verstärkung des ohnehin vorhandenen Konformitätsdrucks bildet.

Lediglich die zwei aufgeweckten und neugierigen Kinder Mati und Maja, die Hauptfiguren des Werkes, bringen die charakterliche Stärke auf, an der Enthüllung des von der Generation ihrer Eltern gehüteten Geheimnisses zu arbeiten und machen sich so eines Tages in den gefürchteten und "verbotenen" Wald auf, in dem ein schrecklicher Berggeist hausen soll...

Amos Oz hat mit »Plötzlich tief im Wald« ein ebenso spannendes wie lehrreiches Märchen geschaffen, das mit simplen Worten und verständlichen Botschaften Missstände menschlicher Gesellschaften schonungslos aufdeckt und anprangert, ohne dabei mit erhobenem Zeigefinger zu arbeiten oder gar menschenfeindliche Aussagen zu machen. Vielmehr erweist sich sein Buch als liebevolles Plädoyer für Toleranz, Freundschaft und Offenheit sowie für Selbstachtung und selbstbewusstes Auftreten, auch und gerade gegenüber scheinbaren Autoritäten oder der übermächtigen, konform denkenden Mehrheit.

Besonders hervorstechend ist für mich die Tatsache, dass der Autor gesellschaftliche Probleme aufgreift, ohne dass es dabei gleich um Mord und Totschlag, Betrug und Intrigen oder Sexualität gehen muss. Nein, hier geht es um ganz einfache Dinge wie Freundschaft, Individualität, Offenheit und Neugier auf der positiven, und dem gegenüber Spott und Hohn, Konformitätszwang und Angst vor Veränderung und Erinnerung auf der negativen Seite. All das gibt, im Zusammenspiel mit dem durch das Verschwinden der Tiere verkörperten Umweltaspekt, ein ziemlich passendes Bild von all dem, was jeder von uns an negativem und bedrückendem in seinem Leben in der zivilisierten Gesellschaft erleben muss und was uns alle einschränkt. Hier geht es nicht um besondere Schicksalsschläge, um Krankheit und Tod, Folter und Mord, sondern um die kleinen Sticheleien im Alltag, das Ausgeschlossensein aus der Gemeinschaft in der Schule oder auf der Arbeit, oder um den Spott, den man erntet, wenn man auch nur etwas andere Gewohnheiten und Vorlieben verfolgt als die Masse.

Es ist wirklich toll, wie Amos Oz es schafft, seine Geschichte so einfühlsam und voller Weisheit zu erzählen, dass sie einerseits völlig kindgerecht ist und den kindlichen Erwartungen an ein schönes Märchen entspricht, und gleichzeitig auch für Erwachsene nicht plattn und vorhersehbar, sondern zum Nachdenken über das eigene Verhalten und das Funktionieren der Gesellschaft, in der wir leben, anregt.

»Ein zauberhaftes, geheimnis- und sehr liebevolles Märchen … ein unvergeßliches Leseerlebnis.« NDR