Die Stadt der Sehenden

Gelesenes | 26. Februar 2019

Saramago schildert das friedliche Aufbegehren mündiger Bürger und die Weigerung der Regierenden, ihre Niederlage zu akzeptieren. Im Buch ist Politik in Demokratien ein bloßes Mittel zum Machterhalt. Die Minister in der Stadt der Sehenden sind demokratisch gewählte Herrscher mit absolutistischen Allüren, kritikunfähig und korrupt. (José Saramago, Verlag btb)

An einem verregneten Sonntag bleiben die Wahllokale der Hauptstadt eines demokratischen Landes vorerst leer. Doch dann, am späten Nachmittag, klart das Wetter auf, scharenweise strömen Wähler herbei, die Politiker atmen auf. Die Wahlurnen sind voller Stimmzettel. Das Ergebnis ist jedoch niederschmetternd: Über 70 Prozent der Stimmzettel sind leer. Ungültig. Weiß.

Die Regierung lässt Neuwahlen ansetzen. Sie schickt Beobachter mit dem Auftrag, jegliches subversive Verhalten zu protokollieren. Doch es kann kein solches Verhalten festgestellt werden. Trotzdem sind nun sogar 83 Prozent der Zettel weiß.

Jetzt sieht sich die Regierung gezwungen, den Ausnahmezustand zu verhängen. Seinen »lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern« empfiehlt der Premierminister Zerknirschung und Reue. Die aufständische Stadt wird abgeriegelt. Das Militär rückt ein, Panzer fahren durch die Straßen. Schon bald sind die ersten Todesopfer zu beklagen. Verhaftungen, Gewalt und Folter gehören rasch zum Alltag. Die Regierung ist unwirsch über das freche Volk. Schließlich verlässt die Regierung mit all ihren Behörden die Stadt und ihre Terroristen. Was tut man nicht alles, um die Demokratie zu schützen.

Vorbei sind auch die Zeiten, in denen noch das Brecht-Wort galt: »Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?« Doch die Hoffnung der Regierung, es werde Chaos ausbrechen und die reumütigen Bürger kämen auf allen Vieren in den sicheren Hafen der bestehenden Verhältnisse zurück gekrochen, trügt; denn in der Stadt ohne demokratische Regierung geschieht Unerwartetes: Das Chaos bleibt aus. Die Wähler und die Nichtwähler arrangieren sich friedlich miteinander und ohne Staatsapparat. Offensichtlich ist das Volk fähig zu einem Frieden ohne Regierung und Polizei, zu Ordnung und Organisation ohne Politiker. Als die Hauptstadtbewohner, die nicht weiß gewählt haben, aus der Stadt fliehen wollen, jedoch an der Grenze verdächtigt werden, Weiße zu sein, und zurückgeschickt werden, helfen ihnen die echten Weißen, ihre Sachen wieder in die Wohnungen zu tragen: »Ein jeder hatte es für sich entschieden, es gab keine Anzeichen für einen Aufruf von höherer Stelle…«

Als die Müllmänner in einen vom Innenminister angeordneten Streik treten, reinigen die Hausfrauen ihre Straßen selbst. Das Fehlen der Polizei führt nicht zu erhöhten Unfallzahlen, die Verbrechensquote sinkt eher - und die politische Meinung wird in ebenso spontanen wie friedlichen Demonstrationen vorgebracht.

»Andere Leitartikel gingen noch weiter, verlangten schlichtweg die Abschaffung des Wahlgeheimnisses und schlugen für die Zukunft, wenn die Lage sich wieder normalisiert hätte, was auf gütliche oder gewaltsame Weise irgendwann geschehen würde, die Einführung eines Wahlbüchleins vor, in dem der Wahlvorsteher nach dem Eingang der Stimme und vor dem Einwerfen derselben in die Urne für alle offiziellen oder privaten Zwecke vermerkt, dass der Besitzer dieses Büchleins diese oder jene Partei gewählt hat. Was ich hiermit mit meinem Ehrenwort bezeuge und mit meiner Unterschrift bestätige. Gäbe es dieses Büchlein bereits, hätte irgendein Gesetzgeber, die ungezügelte Inanspruchnahme des Wahlrechts vorausahnend, gewagt, diesen Schritt zu tun und diese Grundlage für einen transparenten, demokratischen Wahlablauf festgelegt, könnten all die Menschen, die die Partei der Rechten oder die Partei der Mitte gewählt hatten, nun ihre Koffer packen und in ihre wahre Heimat emigrieren, jene Heimat, die stets ihre Arme für die ausbreitet, die sich am leichtesten unterdrücken lassen.« (José Saramago, Die Stadt der Sehenden)

»Ein sehr mutiges Buch ... geschrieben mit eigensinniger Weisheit und frischer Wut.« (Die Zeit)