Die Stadt der Blinden

Gelesenes | 19. Januar 2019

Eine Artikelserie bei Telepolis zum Zustand der Demokratien im 21. Jahrhundert erzählt aus einer Parabel des portugiesischen Literaturnobelpreisträger José Saramago (1922-2010) und bringt mich zu seinen Werken »Die Stadt der Blinden« und »Die Stadt der Sehenden«. (José Saramago, Verlag btb)

In einer Stadt ohne Namen steht an einer Ampel ein Auto, das auch nicht wegfährt, als die Ampel auf Grün wechselt. Andere Fahrer hupen und schimpfen, doch der Fahrer ist plötzlich erblindet. Er bleibt nicht er Einzige und es gibt keine Erklärung für die plötzliche Erblindung so vieler unterschiedlicher Menschen, geschweige denn ein Heilmittel gegen die Krankheit.

Als die Blindheit immer weiter fortschreitet, stellt die ratlose Regierung die Erkrankten in einem verlassenen Irrenhaus unter Quarantäne, um eine weitere Ausbreitung zu vermeiden. Sie werden von Soldaten bewacht, die den Befehl haben, jeden Fliehenden zu erschießen. Zuerst ist die Situation in dieser Anstalt noch erträglich. Obwohl es weder sauberes Wasser noch funktionierende sanitäre Anlagen gibt. Doch in der Außenwelt erblinden immer mehr Menschen und die Anstalt füllt sich. Bald häuft sich der Schmutz, es herrschen Aggression und Gewalt, was darin gipfelt, dass eine Gruppe Blinder die Kontrolle über die Lebensmittelversorgung übernimmt, um die anderen Insassen materiell und körperlich auszubeuten.

Auch ein Augenarzt erblindet. Um an seiner Seite bleiben zu können, stellt sich seine Frau blind - und so kommen sie beide in Quarantäne. Jeweils ca. 40 Menschen, Männer, Frauen und auch Kinder, befinden sich in einem Saal und mit dabei, die sehende Frau des Arztes. Sie ist eine von wenigen, die stets hilft, während sich viele andere mit den Unterdrückern gemein machen. Sie ist es, die nach einer Zeit der Unterdrückung und Ausbeutung den Anführer der verbrecherischen Bande umbringt, was einen regelrechten Krieg auslöst, der damit endet, dass die Anstalt abbrennt.

Zunächst fürchten die Blinden um ihr eigenes Leben, da die Soldaten, die sie bewachen, bereits mehrere von ihnen erschossen haben. Doch es sind keine Wachleute mehr da. Die sehende Frau schart eine kleine Gruppe um sich, mit der sie zurück in die Stadt geht. Inzwischen sind alle Menschen erblindet, es herrschen unmenschliche Umstände, auf den Straßen türmt sich der Dreck. Strom oder fließendes Wasser gibt es nicht mehr und Scharen von Blinden suchen verzweifelt nach Lebensmitteln und Obdach. Viele von ihnen finden den Tod. Der Frau gelingt es, mit ihrer Sehkraft das Überleben der Gruppe zu sichern. Völlig überraschend erhält der als Erster erblindete Autofahrer sein Augenlicht zurück. Nach und nach können alle wieder sehen.

Saramago ist sehr sparsam in den Mittels der Textgestaltung. Direkte Rede steht nicht durch Anführungszeichen oder ist anderswie gekennzeichnet, sie ist in den Text eingeflochten. Der Text ist in wenige Kapitel unterteilt, diese tragen keine Nummern oder Überschriften, lediglich durch Fettdruck der ersten Wörter ist der Kapitelanfang erkennbar. Innerhalb der Kapitel sind Absätze sehr selten. Dadurch entsteht eine große kontinuierliche Textfläche die ähnlich schwer lesbar ist wie Jack Kerouacs On the Road.

Man kann manches an Bedeutung in den Text hinein interpretieren. Saramago sprach mehrfach von der „Blindheit des Herzens“. Deutlich wird dies beispielsweise in dieser Passage: » ... bitte fragt mich nicht, was das Gute und was das Böse ist, wir wussten es immer, als die Blindheit noch eine Ausnahme war ... « Damit könnte es eine kritische Metapher auf die Empathie- und Wertelosigkeit unserer Gegenwart sein.

»Die literarische Stimme seines Landes.« (Der Spiegel)